Apostellinnen, Kirche Therwil BL, Corinne Güdemann Warum nicht mal anders denken?
Ermutigung zum unzeitgemässen Leben
Ich habe in den letzten Monaten darüber nachgedacht, was in unserer kleinen Welt, unserer Gemeinde, unserem Land, unserer Kultur eigentlich «normal» ist, im Sinne von gut und klug und richtig. Wie leben wir? Welche Werte sind unumstösslich? Was ist die Regel? Und was die Ausnahme? Ich kann es nicht wirklich sagen. Scheinbar ist es mit dem menschlichen Verhalten wie mit der Mode – alles ist erlaubt und alles ist möglich.

Vor langer Zeit habe ich ein Buch mit dem Titel «Ermutigung zum unzeitgemässen Leben» gekauft. Geschrieben hat es André Comte-Sponville, ein französischer Philosophieprofessor. Es ist ein Plädoyer für Tugendhaftigkeit. Das tönt ganz schön altmodisch. Warum eigentlich? Wo doch für Aristoteles der Weg zur Glückseligkeit über die Tugend führt. Aristoteles beschreibt die Tugenden als erworbene Neigung oder Fähigkeit zum Guten. Compte-Sponville sammelt bei verschiedenen Philosophen Stärken und Kräfte, die den Menschen zum Guten befähigen. Für ihn gehören folgende Tugenden (das kommt von Tauglichkeit) dazu? Höflichkeit, Treue, Klugheit, Mässigung, Mut, Gerechtigkeit, Grossherzigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Demut, Einfachheit, Toleranz, Reinheit, Sanftmut, Aufrichtigkeit, Liebe und Humor. 

Alle Tugenden bedingen einander. Alle sind wichtig. Denn man kann ebenso ein aufrichtiger Schurke sein, wie eine lieblose Gerechte, ein unbarmherziger Kluger, oder eine mitleidlose Dankbare. 

Wie weit haben wir Menschen es bis heute verpasst, uns in den Fähigkeiten für ein glückliches Leben (für möglichst viele, nicht nur für mich selbst) auszubilden? Die Frage stellt sich im Alltag immer wieder. Im Moment gerade beim Blick auf die Untersuchungen zu den Missbrauchsfällen in der Kirche, bei denen seit Jahrzehnten und bis heute viele Massnahmen getroffen wurden, um die weisse Weste der Kirche nicht zu beschmutzen und vielleicht auch, um nicht zum eigenen Versagen stehen zu müssen. Die eigenen Kollegen und Angestellten waren den Verantwortlichen näher als die Opfer, oft noch minderjährig und entsprechend weniger glaubhaft als die Amtsträger. Und genau dasselbe passiert in anderen Lebensbereichen: Im Sport, wo Beschuldigte ihre Grenzüberschreitungen und groben Übergriffe bagatellisieren. In öffentlichen Diskussionen, wo auf gegenseitigen Respekt keinen Wert gelegt wird. Im ganz normalen Alltag, wo Aludosen in Kuhweiden landen, Menschen einander auf der Strasse ignorieren, der Kellnerin der Hinweis auf ein kleines Versäumnis, aber kein Dankeschön serviert wird. 

Schon im Vorwort schreibt der Philosoph, dass er nichts davon hält, den Mahnfinger zu heben. Hoffnung ist angebracht. Das Gute existiert. Es zeigt sich in der unübersehbaren Vielfalt von guten Handlungen, die Menschen jeden Tag vollbringen und in einer unbestimmten, aber sicherlich weniger grossen Anzahl von guten Haltungen oder Tugenden, die da sind, auch wenn sie noch nicht ganz ins Handeln einfliessen. 

Vielleicht sollte die Ermutigung zum unzeitgemässen Leben uns dazu bringen, Kindern in der Schule ein bisschen Philosophie zu lehren. Quasi als theoretische Verknüpfung zur Übung des guten Zusammenlebens, das quasi lernstoffbegleitend nebenbei gelernt wird. Das bringt natürlich nichts, wenn sie im echten Leben die wahrhaftige Anwendung der Tugenden nicht erfahren. Es geht deshalb nicht ohne selbstkritische Reflexion von uns Erwachsenen, wie weit wir die Fähigkeiten zum glücklichen Leben verinnerlicht haben und auch in unserem Handeln spiegeln. 

Vielleicht wäre es sogar zeitgemässer, ganz bewusst die achtzehn Fähigkeiten zu schulen in Anbetracht der Tatsache, dass das Zufriedensein mit weniger als heute (Mässigung), der nachhaltige Umgang mit den Ressourcen (Klugheit), das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen auf immer enger werdendem Raum (dafür braucht es alle 18 Tugenden, vor allem auch Liebe und Humor) nur einige der grossen Herausforderungen der Zukunft sein werden?   

Mit Gedanken aus: André Compte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemässen Leben, ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rohwolt-Verlag, 1996